Reizvolle Gegensätze
Viel Orgel und wenig Chor im Konzert in St. Andreas
Hildesheim. Wer improvisieren kann, ist meist gut bedient im Leben und in der Musik sowieso. Da einer der lediglich drei Tenöre des Kammerchors das Konzert absagen musste, konnte das vorgesehene Programm nicht mehr stattfinden. Doch Bernhard Römer machte aus der Not eine Tugend. Vier Tage zuvor hatte der Andreaskantor in Michaelis ein Orgelkonzert gespielt. Und das Programm fand nun auch an der Beckerath-Orgel in der Andreaskirche seinen Platz.
Und dass 16 Choristen des Kammerchors mit dem „Kyrie“ und „Gloria“ aus da Palestrinas „Missa Brevis“ einen kleinen Vorgeschmack auf das Chorkonzert gaben, war noch ein geschickter Werbeschachzug: Das Konzert wird nun am 15. September stattfinden. Das Hauptaugenmerk liegt im Konzert natürlich auf dem Orgelprogramm, das pfingstlichen Charakter hat. Barocke Werke von Johann Sebastian Bach und Nicolas de Grigny wechseln sich mit Kompositionen Jehan Alains (1911- 1940) ab. Reizvolle atmosphärische Gegensätze ziehen sich hier an.
Bachs einleitende mächtige „Fantasia super“ über „Komm, heiliger Geist, Herre Gott“ (BWV 651) strahlt hell. Aussagekräftige Registrierungen unterstreichen den individuellen Charakter des Stücks aus den „Leipziger Chorälen“ genauso wie die durchdachte Durchgestaltung der Komposition. Wer einen hängenden Garten hören möchte, der darf Alains komponierte Bilder des „Le jardin suspendu“ genießen. Bernhard Römer mischt hier die Klangfarben dezent an. Die flirrenden und auch meditativen Klänge sendet der Organist geheimnisvoll durch den Kirchenraum. Genauso wie der französische Komponist Jehan Alain die Bandbreite seiner Stilmittel nutzte, setzt Römer auf die Möglichkeiten der imposanten Beckerath- Orgel. Besonders die klaren Klänge der hohen Streicher und Flöten treffen den Ton des Stücks und des Instruments.
Das große mitreißende Werk des Abends ist Alains rhythmisch fesselndes Orgelwerk „Litanies“. Römer schafft es, die dramatischen und ekstatischen Steigerungen virtuos und mit großen Crescendobögen zu inszenieren. Diese in Töne gefassten Gebete mit ihren zahlreichen Themenvariationen kommen nicht zur Ruhe. Das wollte der Komponist auch nicht. Er verstand dieses Werk nicht als Klage, sondern als Tornado, der alles wegfegt. Und dem Andreasorganisten gelingt das bravourös. Birgit Jürgens
HILDESHEIMER ALLGEMEINE ZEITUNG 18.06.2019